Montag, 19. Oktober 2009

Über das Musik hören

Barbara, Jahrgang '49, liebt Musik.
Wobei das vielleicht noch etwas milde ausgedrückt ist; von barockem Bach, bis hin zu zeitgenössischem Zeman, von äolischen Kirchentonleitern über alterierte Jazz-Skalen bis hin zu zarter Zwölftonmusik - was in den letzten 400 Jahren komponiert, interpretiert oder arrangiert wurde, und darauf würde Barbara ihr Grammophon verwetten, hat sie schon mal gehört und kann es, in vielen Fällen auch dem entsprechendem Komponisten bzw. der passenden Epoche zuordnen.

Barbara gehört im 21. Jahrhundert zu einer, vom Zeitgeist (der sich u. A. in Form von blank polierten i-Pods äußert) bedrohten Art, nämlich zur einst verehrten, nun mitleidig belächelten Gruppe der Musikliebhaber, die zwar nicht ständig und überall mindestens einen weißen Kopfhörer im Ohr haben, dafür aber wenn sie Musik hören, dies zumindest bewusst machen, und nicht nur um die Wartezeit in öffentlichen Verkehrsmitteln angenehmer zu gestalten, sich im "Shuffle-Modus" von wahllosen Songs dauerberieseln lassen.

Die Mobilmachung von Musikgenuss, die mit dem Walkman von Sony in den 70er-Jahren begonnen hat, hat gleichzeitig die Apokalypse der abendländischen Musik(-hör-)kultur eingeläutet. Auf der einen Seite wird durch die stetig billigeren, kleineren und mit mehr Speicherkapazität ausgestatteten, nennen wir sie mal verallgemeinernd nur MP3-Player gewährleistet, dass eine wesentlich (!) breitere Öffentlichkeit Zugang zu (passivem) Musikgenuss hat, aber eben dies führt auf der anderen Seite auch zu einem rasanten Niveau-Verfall der angebotenen Medien.

Um zu verdeutlichen wie sich die Tätigkeit des Musik hörens in den letzten Jahrzehnten verändert hat, werde ich kurz die italienische Sprache zu Hilfe nehmen, allerdings weder, wegen ihrer historischen Bedeutung in der Musikgeschichte, noch wegen ihres zarten melodischen Klangs; vielmehr geht es um die zwei Wörter "ascoltare" und "sentire", die man zwar annähernd durch "hören"(passive Wahrnehmung) und "zuhören"(aktive Wahrnehmung) andeuten kann, die aber trotzdem auf Italienisch wesentlich differenzierter sind.
Barbara, die uns mittlerweile als Musikfetischistin bekannt ist, hat in ihrer Studienzeit auf die Frage nach ihren Hobbys stets nur mit "Musik hören" geantwortet um sich, wenn man genauer nachfragte, rasend schnell in Einzelheiten ihrer fast schon krankhaften Sucht zu verstricken. Auch heute liest man ständig von jungen Menschen, die scheinbar "ohne Musik gar nicht mehr leben" könnten. Fragt man genauer nach, wo denn eine solche Identifikation mit Musik herrührt, bzw. ob sie denn selbst ein Istrument zu spielen vermögen, stellt sich meist nach einer kurzen Konversation heraus, dass sich ihre Verbindung zur Musik auf den Besitz eines i-Pods und ständige Dauerberieselung im eigenen Zimmer beschränkt. Ohne jetzt eine ganze Generation von designbewussten, individuellen und globalisierten Jugendlichen (der ich ja selbst auch angehöre) vor den Kopf stoßen zu wollen, wage ich es die Behauptung aufzustellen, dass der Trend des perzeptiven Musikgenusses ein Problem ist, das sich mit einem gewaltigen Crescendo auf ein Finale zubewegt, das vor lauter Polyrhythmik und Polyphonie (nur um nicht Chaos zu sagen) kaum noch zu ertragen ist. Wo ist die gute alte Zeit geblieben, als man sich zuhause noch (alleine oder mit Freunden) Vinylplatten oder CDs oder Kasetten angehört hat, aber aus Lust an der Musik, und nicht als Berieselung für eine andere Tätigkeit die man sonst, weil bei überstimulierten "New-Generation-Kids" ständig alle Sinnesreize gefordet werden müssen, nicht mehr machen würde.

"Musik hören" war mal eine vollwertige Tätigkeit, so wie "fernsehen" oder "schwimmen".
Im digitalen Zeitalter ist aber die Apperzeption, also das bewusste Wahrnemen von Sinneseindrücken, auf sehr wenige Tätigkeiten beschränkt. "Musik hören" ist leider ebenso wie "Foto-Alben ansehen" oder "Backgammon spielen" in letzter Zeit immer mehr zu einer perzeptiven Tätigkeit verkommen, bei der man zwar hört, aber nicht zu-hört, bei der man zwar steht oder liegt, aber nicht ver-steht was dahinter liegt.
Ich will nicht behaupten, dass jeder der Musik hört ein diplomierter Musiktheoretiker sein muss, auch bin ich ein überzeugter Gegner von einer zunehmenden Rationalisierung der Musik, doch ich finde, wenn man Musik hört, sollte man sich auch gewisse Gedanken machen, wie bewusst man es eigentlich tut; und eine gewisse Basis, was die Musiktheorie anbelangt, hat noch keinem geschadet.

Auch Barbara hat mittlerweile einen i-Pod.
Ihre Nichte war überzeugt von der Notwendigkeit des Geschenks. Seit Barbara aber einmal
von den Paukenschlägen des "Also sprach Zarathustra" von Richard Strauß dermaßen ergriffen war, dass sie einen mittelschweren Fahradunfall verursacht hat, verwahrt sie den apokalyptischen Reiter des perzeptiven Musikgenusses sicher in ihrer Kommode.

Valentin Gasser

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